Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 03 2018 Epoche: was nach der Revolution von 1968 bleibt > S. 2/3 Erkundung: mit einer App Roms Geschichte entdecken > S. 6 Event: Tipps und Tricks für ein gelungenes Fest > S.11 Die Kraft des Kollektivs Liebesgeschichte und Menschenmeer: Die Freiburger Sport studierenden überzeugten in Maurice Ravels „Daphnis et Chloé“. FOTO: ALEX KOCH Das Bildungsprojekt „Danse générale“ bringt Musiker, Tänzer, Studierende, Schüler und Migrantinnen auf die Bühne von Annette Hoffmann Kaum sind die letzten Klänge des Orchesters „Orso“ ver klungen, fällt alle Anspannung ab. Standing Ovations. Als sich die etwa 80 Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne verbeugen, ist die Begeisterung groß. Im Verlauf des Abends hatte das Publikum die Darstellerinnen und Darsteller in drei verschiedenen Stücken ge sehen: die Jüngsten in Maurice Ravels „Ma mère l’oye“, Sport studierende in Ravels „Daphnis et Chloé“ und zum Schluss das „Showteam Matrix“ des Turnver eins Herdern in Igor Strawinskys „Der Feuervogel“. Die drei Ballett musiken führen in die 1910er Jahre zurück, als der russische Impre sario Sergej Djagilew mit seinem weltberühmten Ensemble „Ballets Russes“ die Geschichte des Tan zes revolutionierte. An diesem Samstagabend im Juni 2018 hält Christina Plötze die Fäden in der Hand. Die Dozentin für Tanz vom Institut für Sport und Sportwis senschaft der Universität Freiburg hat das Mammutprojekt „Danse générale“ auf die Bühne gebracht. Wenn am Ende, nach gut zwei dreiviertel Stunden ein Wermuts tropfen bleibt, dann, dass nun vorbei ist, was im vergangenen Semester angefangen und ein so vielfältiges Publikum in das Konzerthaus Freiburg gelockt hat: OrsoFans und Akrobatikbegei sterte, Familie und Freunde der jungen Darsteller, Jungs mit Side cut in Trainingshosen und kunst sinnige Frauen mittleren Alters. In der Pause eilen drei Mädchen aus der Wentzinger Realschule im Kostüm durch das Foyer, zwei Schwestern aus Syrien posieren mit einer Freundin für ein Handy foto des Vaters. Selten überschreiten kulturelle Veranstaltungen die Grenzen zwischen unterschied lichen gesellschaftlichen Gruppen so sehr wie das Tanzprojekt „Danse générale“, für das Rektor Prof. Dr. Hans Jochen Schiewer die Schirm herrschaft übernommen hat. „Wir spielen für euch“ Szenenwechsel: Am Samstag vor der Premiere ist es in der Aula des Freiburger FriedrichGymna siums schwül und voll, die Stim mung aufgekratzt. OrsoDirigent Wolfgang Roese sorgt für Konzen tration: „Hört zu, wir spielen für euch.“ Christina Plötze zählt: „Vier, fünf, sechs, freeze.“ Noch klappt das Timing des Finales nicht perfekt. „Noch einmal, so viel Zeit muss sein“, sagt die Choreografi n. Die Musikerinnen und Musiker treffen bei dieser Probe das erste Mal mit der Equipe zusammen. Da ist das Showteam Matrix, das 2004 von Plötze gegründet wurde. Die Akrobatinnen und Akrobaten ste chen durch ihre Körperbeherr schung und Präzision hervor. Da sind Plötzes Studierende des Schwerpunktfachs Tanz, die nicht nur selbst auftreten, sondern auch mit den Kindern und Jugendlichen die Choreografie des Märchen Medleys „La mère l’oye“ erarbeitet und dabei ihr didaktisches Wissen unter pädagogischer Begleitung umgesetzt haben. Die Jüngsten sind die heterogenste Gruppe. Sie setzt sich aus Schülerinnen und Schülern der Wentzinger Realschule und der Lörracher Tanzschule 3Ländereck sowie Teil nehmerinnen des „kick for girls“Projekts zusammen, bei dem Mädchen aus Syrien, Griechen land, Serbien, Mazedonien und dem Irak mitmachen. Fußball erreichen ließen. Sie selbst ist seit 2013 dabei und hat ihre Bachelorarbeit über das Projekt geschrieben. Ihr Studium schloss sie mit einer Masterthesis über den Erwerb von interkultu reller Kompetenz durch informelles Ler nen ab. Dass bei „Danse générale“ neun geflüchtete Mädchen im Konzerthaus tanzten, sei ein High light, aber nur der öffentlich sicht bare Teil des CommunityProjekts. „Schließlich geht es auch um das Erleben von Gemeinschaft und regelmäßigen Strukturen sowie um Selbstbewusstsein und einen spie lerischen Erwerb der deutschen Sprache“, berichtet Freudenberger. Einige der Schülerinnen konnten anfangs weder lesen noch schrei ben. Dass Sport einen wichtigen Beitrag zur Integration leisten kann, wurde „kick for girls“ auch offi ziell bestätigt: 2017 zeich- nete der Deutsche FußballBund das Projekt in Berlin mit dem Integrationspreis aus. Vorbehalte gegenüber Klassik abbauen Kathrin Freudenberger, wissen schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sport und Sportwissenschaft, erzählt, dass sie bei „kick for girls“ gemerkt hätten, dass sich nicht alle jungen Migrantinnen durch den Spricht man mit der Lehrerin Elena Hotaki, die an der Wentzinger Realschule Deutsch und Musik unterrichtet, dann erfüllt „Danse générale“ einen umfassenden Bildungsauftrag. Das Projekt baue Vorbehalte gegenüber klassischer Musik ab, indem es den Schülern ermögliche, einen ganzheitlichen Zugang zur Musik zu finden und sie durch den Ausdruck ihrer Körper zu interpretieren. Dieser Anspruch ist auch die Grundmoti vation von Christina Plötze. Bei ihr laufen alle Stränge zusammen – die pädagogischen, gesellschafts politischen und künstlerischen. Plötze hat sich an der Münchner Tanzschule Iwanson im zeitge nössischen Bühnentanz und zur Tanzpädagogin ausbilden lassen, studierte Sport und Deutsch und unterrichtete die Fächer mehrere Jahre in Freiburg und Gengenbach. Bevor überhaupt die ersten Schritte geprobt wurden, schauten sich Plötze und die Studierenden Bilder von impressionistischen Malern an und lasen Gedichte und Prosatexte zur Motivgeschichte der Ballette. Plötzes pädago gi sches Credo lau tet: „Nicht über fordern, aber heraus fordern“. „Danse générale“ ist ein kollektiver Kraftakt, an dem der Großteil der Beteiligten ehren amtlich gearbeitet hat. Wenn Kinder, die an sonsten unter Aufmerksamkeits defi ziten leiden, hoch kon zentriert im prall gefüllten Konzert haus tan zen, bewege das bei allen etwas, sagt die Choreografi n: „Deswegen machen wir das.“