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uni'wissen 01-2014

produktiven Produktivität zu erforschen – und das, als fächerübergreifendes Großprojekt ange- legt, so breit wie möglich: 15 Forschungsteams arbeiten in 15 Teilprojekten zusammen. Beteiligt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Philosophie, Ethnologie, Soziologie, Sla- vistik und der psychosomatischen Medizin. Ein Ich reflektiert sich selbst „Stillgestellte Zeit und Rückzugsräume des Er- zählens“ heißt eines dieser Teilprojekte, das die Freiburger Professoren Thomas Klinkert, Romanis- tik, und Dieter Martin, Germanistik, zusammen mit der Doktorandin Anna Sennefelder und dem Dokto- randen Georg Feitscher bearbeiten. Sie wollen wis- sen, wie Autoren beim Schreiben autobiografischer Texte ihre eigene Erzählsituation schildern: Neh- men sie wahr, wo sie schreiben, und wenn ja, wie entwerfen sie ihre Umge- bung? Wie vergeht die Zeit beim Schreiben? Schnell, langsam? Oder schreiben sie unter Zeitdruck und empfinden keine Muße? Untersucht wird, wie die Autoren das Erzählen in- szenieren, und nicht, wie Muße in ih- ren Texten erlebt und beschrieben wird. Was die Forscherinnen und Forscher interessiert, sind die Identitätsentwürfe hinter den Erzählungen. Darum durchforstet das Team ausschließlich Autobiografi- sches oder, wie Romanistin Sennefelder ausführt, „Texte, in denen ein Ich sich selbst reflektiert und erzählt. Ob die Leserinnen und Leser diese Erzäh- lung dann als Wirklichkeitsbericht oder als Dichtung deuten, bleibt ihnen überlassen.“ Der Begriff Muße, so Klinkert, habe eine ver- gleichsweise komplexe Geschichte. In der Antike wurde „otium“, also die Freiheit vom Zwang der Beschäftigung, ausschließlich positiv bewertet. „Negotium“, ihr Gegenteil, wurde als Fron emp- funden. Bereits im Mittelalter, spätestens aber mit dem Aufstieg des Protestantismus wurde Muße häufig mit Faulheit, Trägheit oder Sünde gleich- gesetzt. Die Ambivalenz des Begriffs trieb auch viele Autoren um. Einer von ihnen, erzählt Klin- kert, sei Michel de Montaigne gewesen, der in ei- nem Essay schon 1573 das Nichtstun als Zustand zwischen Kreativität und Bedrohung beschrieben habe. „Muße wird nicht nur als Chance skizziert, sondern auch als etwas, das die wildesten Fan- tastereien hervorbringen kann“, berichtet Klin- kert. Selbst im heutigen Sprachgebrauch werde nicht sauber zwischen „Muße“ und dem negativ besetzten „Müßiggang“ unterschieden. Derzeit arbeiten sich Sennefelder und Feit- scher durch sieben französische und sieben deutsche autobiografische Erzähltexte von Sten- dhal, George Sand, Marcel Proust, Günter Grass, Christa Wolf, Thomas Bernhard und anderen. Während Feitscher sich dem 20. Jahrhundert widmet, geht Sennefelder bis ins frühe 19. Jahr- hundert zurück. Sie wollen aufzeigen, dass der idealtypische Mußeraum über die Jahrhunderte hinweg immer brüchiger wird. Verortet ein Cha- teaubriand sein erzählendes Ich noch an einem idyllischen Zufluchtsort, kann Christa Wolf in ih- rem Buch „Kindheitsmuster“ nur noch ange- strengt auf ihre Schreibmaschine starren: „Das Blatt blieb eingespannt, neun Tage lang hat kei- ner auf der Maschine geschrieben“, notiert sie und klagt an anderer Stelle: „Der Zwang, täglich einige Seiten hervorzubringen, kann die Tage überschatten.“ Muße gibt es bei Wolf nicht mehr. Außerdem fällt auf, dass die Autorin erst auf den letzten Seiten des Romans ihr „Ich“ einführt. „Das vergangene und das gegenwärtige Selbst sind nicht automatisch identisch“, erklärt Feit- scher. „Vielmehr muss der Zusammenhang zwi- schen beiden erst mühsam im Prozess des Schreibens hergestellt werden.“ In der Moderne scheint alles möglich Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Autoren in neueren autobiografischen Texten die Frage der eigenen Identität thematisieren, vor allem aber problematisieren. Idealtypisch ist in der Moderne nichts mehr: Bereits Stendhal durchbricht sein selbstvergessenes Mußeerlebnis, indem er den Leser in einer kleinen Fußnote darüber infor- miert, auf wie viele Seiten Text er es in nur einer Stunde gebracht hat. Vom idyllischen Rückzugs- ort – dem Garten, der Insel, der Bibliothek – bleibt immer weniger übrig. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde dieser Freiraum – ob real oder imaginär – von Autoren erst beschrie- ben, dann aus einem Gefühl der Muße heraus befüllt: mit Fakten, Gedanken und Emotionen zum eigenen Ich. Dieses Befüllen des Raumes erlebten sie als Erfüllung. Die Zeit schien derweil stillzustehen. Oder besser: Sie trat hinter das Er- Stillgestellte Zeit: Der Garten ist für viele Schriftsteller ein Ort, an dem sie Muße erleben. Foto: Helen Hotson/Fotolia „Muße verweigert sich dem Gegensatz von Arbeit und Freizeit, der das Dasein in der modernen Gesellschaft bestimmt“ 37

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