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uni'wissen 02-2015

ten brauchen, damit sie lernen können, mit einer schweren Krankheit zu leben. Die Stimme des Arztes inszenieren Herr M. jedenfalls, der von chronischen Schmer- zen geplagt wird, dürfte das verächtliche Verhal- ten des Arztes nicht gerade als unterstützend erlebt haben. „Ärzte sollten darin geschult werden, sich die Rolle bewusst zu machen, die sie für Pa- tienten bei der Krankheitsbewältigung spielen“: So lautet das Fazit, das Lucius-Hoene und andere aus einer Studie über szenische Erzählungen zie- hen, in denen Patienten die Stimme ihrer Ärzte inszenieren. 394 solcher Szenen aus Interviews mit 26 Diabetes-Typ-2-Patienten und 30 Patien- ten mit chronischen Schmerzen hat das Team in detektivischer Detailarbeit unter die Lupe ge- nommen – in dem Wissen, dass die Erzählenden ihre Akteurinnen und Akteure in einer Art und Weise auftreten lassen, die den eigenen Emotio- nen und strategischen Zielen im Augenblick des Erzählens entspricht. „Sind Sie schon immer so fett gewesen?“, lässt eine Diabetespatientin ihren Arzt sagen. Wie viele Leidensgenossinnen und -genossen hat sie mit Ärzten zu kämpfen, die mahnend, kontrollierend und demütigend auf Lebensstiländerungen drän- gen – was, wie Diabetikerinnen und Diabetiker wissen, nicht verkehrt ist. Aber es kommt ihnen darauf an, dass sie sich als Person respektiert und einbezogen fühlen. „Warum gehen Sie nicht mal zum Psychiater?“, zitiert ein Schmerzpatient seinen Arzt und demonstriert damit, wie sehr Menschen wie er darum kämpfen müssen, dass ihr Leiden von ihrem persönlichen Umfeld ein- schließlich ihrer Ärzte anerkannt wird. Allzu oft erleben die Betroffenen, dass sie als Verrückte abgestempelt werden, die sich nur genug anstren- gen und die Anweisungen ihres Arztes strikt be- folgen müssten, um ihre Schmerzen loszuwerden – so berichten sie es in ihren Erzählungen. Bilder, die Schmerzen beschreiben Wie überhaupt über eine Krankheit reden? Oder sie am besten gar nicht thematisieren? Zum Weiterlesen Ziebland, S. / Lavie-Ajayi, M. / Lucius-Hoene, G. (2015): The role of the internet for people with chronic pain: examples from the DIPEx international project. In: British Journal of Pain 9/1, S. 62–64. Lucius-Hoene, G. / Groth, S. / Becker, A.-K. / Dvorak, F. / Breuning, M. /  Himmel, W. (2013): Wie erleben Patienten die Veröffentlichung ihrer Krankheitserfahrungen im Internet? In: Die Rehabilitation 52/3, S. 196–201. Lucius-Hoene, G. / Thiele, U. / Breuning, M. / Haug, S. (2012): Doctors’ voices in patients’ narratives: coping with emotions in storytelling. In: Chronic Illness 8/3, S. 163–175. „Erkenntnistheoretisch ist das ein Paradigmenwechsel“ Prof. Dr. Gabriele Lucius- Hoene ist approbierte Ärztin und diplomierte Psychologin, Neuropsychologin und psychologische Psychothe- rapeutin. Sie wurde 1995 mit der Arbeit „Nicht krank und nicht gesund. Identitäts- konstitution und Bewältigung in den autobiographischen Erzählungen Kriegshirnver- letzter und ihrer Ehefrauen“ an der Universität Freiburg für das Fach Psychologie habilitiert. Von 1997 bis 2000 war sie Projektleiterin im Sonderforschungsbereich „Identitäten und Alteritäten“. Seit 2008 koordiniert sie das Projekt DIPEx (Database of Individual Patients’ Experiences) Germany. 2011/12 war sie Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS). Foto: privat uni wissen 02 2015 Leon Murthy hat in seiner von Lucius-Hoene be- treuten Bachelorarbeit analysiert, wie Menschen Schmerzen beschreiben und welche Bilder sie dafür finden. Eher nüchterne Typen wählen etwa eine Skala von eins bis zehn, um ihre Schmer- zen morgens, mittags und abends einzuordnen. Eine andere Patientin spricht von einer „glühen- den Eisenkugel“, die ihr „das Rückgrat runter- rollt“. Wie chronische Schmerzen gilt auch die Epilepsie, der ein weiteres Modul gewidmet ist, als sozial problematische Krankheit. Martina Breuning arbeitet in ihrer ebenfalls von Lucius- Hoene betreuten Dissertation heraus, dass so- wohl Schmerz- als auch Epilepsiepatienten ihre eigenen Strategien entwickeln, wenn es darum geht, wie, wann und wem sie sich offenbaren. Auf jeden Fall kann das Erzählen helfen, wenn Patienten mit der Diagnose einer lebensbedrohli- chen Erkrankung wie Darmkrebs – beschrieben in einem der neueren Module – konfrontiert werden. Die Betroffenen wenden ganz unterschiedliche Sprachstrategien an, um sich mit dem möglicher- weise nahen Tod auseinanderzusetzen. Das hat Lucius-Hoenes Mitarbeiterin und ehemalige Dokto- randin Dr. Sandra Adami in ihrer Dissertation bei der Analyse von 43 Interviews herausgefunden. Während die einen Geschichten vom „Tod der anderen“ erzählen, wissen andere Betroffene schon, welches Lied bei ihrer eigenen Beerdi- gung gespielt werden soll. www.krankheitserfahrungen.de 35 uni wissen 022015

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