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uni'wissen 01(3)-2011

Ab und zu denkt man gerne an seinen Mathe- lehrer, den Prototyp aller Prototypen. Und der scheint sich seit Jahrzehnten nicht verändert zu haben: „Eine blaue Brille, eine Portion Zer- streutheit, eine durch nichts aufzufrischende Trockenheit, die notwendige Folge der Beschäfti- gung mit dem trockensten Fach.“ Moritz Cantor wusste schon 1904, welches Klischee der gesam- ten Mathematikerzunft vergangener Jahrhunderte anhaftete. In einem Essay schrieb der Professor für Mathematikgeschichte gegen das Vorurteil an, Mathematiker seien nicht zur Kreativität und Fantasie fähig – und beteiligte sich an einem ­leidenschaftlich geführten Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts. Ob in Theaterstücken, Briefen, Zeitschriften oder philosophischen Abhand­ lungen – Humanisten und Naturwissenschaftler debattierten die Fragen: Was macht einen ­Mathematiker aus? Und hat er etwas mit einem kreativen Geist, einem Dichter oder Schriftsteller, gemeinsam? Exakte Empirie, schwammige ­Schöpfungskraft In der Frühen Neuzeit hätte es solch eine Dis- kussion erst gar nicht gegeben. Für die damaligen Zeitgenossen war klar: Die Mathematik unter- weist ihre Schüler nicht nur im Rechnen und in formaler Urteilskraft, sondern bildet auch den Charakter, formt den Homo mathematicus. Und der galt als König exakter Wissenschaft und Logik, ein edler Entdecker der Wahrheit. Wer wollte sich bei solch einem Steckbrief schon mit Schöp- fungskraft, der eher schwammigen Waffe der Philosophen, schmücken? Doch bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts kam Kritik an der strengen Zweiteilung auf. „Witz, Kunst, Fantasie und Leben auf der ­einen, Kalkül, Regel, Trockenheit und Pedanterie auf der anderen Seite – diese Fronten begannen zu wackeln“, sagt die Germanistin Dr. Andrea ­Albrecht. In ihrer Habilitationsschrift, die zwischen Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Mathe- matikgeschichte und -philosophie angesiedelt ist, untersucht sie, auf welche Weise Mathematik und Mathematiker in literarischen und kulturwis- senschaftlichen Texten präsentiert werden. „Im Mittelpunkt steht die Rede über Mathematisches, die an sich nicht mathematisch ist.“ Versuche ein Mathematiker einem Laien seine Disziplin zu er- klären, habe das nichts mit Formeln, quadra­ tischen Wurzeln oder Doppelbrüchen zu tun: Emmy Noether hat die moderne Mathematik ­begründet – im Dritten Reich jedoch galt sie als Vertreterin der „jüdischen Mathematik“, die die ­Nazis als zu abstrakt und theoretisch verwarfen. Quelle: Universitätsarchiv Göttingen Und sie streiten sich doch: Jahrhundertelang galten Mathematiker als gesittete Akademiker, die ihre ­Diskussionen friedlich ­austrugen – doch das war eher Selbst­ inszenierung als Realität. Zeichnung: Becker 25uni'wissen 03