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uni'leben 02-2016

02 2016 unı leben Die Zeitung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg www.leben.uni-freiburg.de 4 Wolfgang Reinhard hätte auch weiter in der Geschichte zurückge- hen können, doch er wählte das Jahr 1415 – die Eroberung der nord- afrikanischen Stadt Ceuta – als symbolisches Datum für den Be- ginn der europäischen Ausbreitung. In seinem neuen Buch beschreibt der emeritierte Professor für Neuere und Neueste Geschichte der Univer- sität Freiburg, wie die Europäer in- nerhalb von 600 Jahren die Welt politisch, kulturell und wirtschaft- lich unterwarfen. Rimma Gerenstein hat ihn gefragt, welche Fortschritte die Expansion mit sich brachte und ob die Globalität eine Chance hat. uni’leben: Herr Reinhard, warum war der Entdeckerwille in Frank- reich, Spanien, England, Portugal und den Niederlanden in der Frühen Neuzeit so ausgeprägt? Wolfgang Reinhard: Die Europäer schwärmten schon seit dem frühen Mittelalter in die Welt aus, allerdings nicht gleichzeitig. Das ist aber nicht auf den so genannten Renaissance- menschen mit seiner Aufbruchstim- mung zurückzuführen. Die Gründe für die Expansion sind ein Gemenge aus Profitwillen, rivalisierenden König- reichen, technischem Fortschritt, Ehr- geiz und tausend anderen Motiven. Vor allem sind viele Ereignisse einer Reihe von Kontingenzen, einer Art Zufall, zu verdanken: Amerika konnte erst entdeckt werden, als man nach Süden in die Passatzone vorgedrun- gen war. Dort erlebten die Seefahrer zum ersten Mal Rückenwind, und Kolumbus konnte gemütlich über den Atlantik gondeln. Die Expansion verursachte eine Menge Katastrophen wie den Skla- venhandel, brachte aber auch viele Errungenschaften für Europa – unter anderem, ganz trivial, die Kartoffel. So trivial ist das nicht. Wir haben erst in den 1970er Jahren angefangen, die gigantischen Ausmaße des kolum- bianischen Austausches über den At- lantik zu erforschen. Heute kann sich niemand mehr die Welt ohne die Kar- toffel oder den Mais vorstellen. Von den landwirtschaftlichen Produkten hat Europa am meisten profitiert, weitaus mehr als von Gold und Silber. Außer- dem lernten wir eine neue Palette von Drogen kennen: Der Tabak ist bis heu- te weltweit das erfolgreichste Rausch- mittel. Mit dem Tee und dem Kaffee kamen die Europäer in den Genuss weiterer Drogen. Bis dahin hatten sie nur den Alkohol, und der war schwach. Und wie verhielten sie sich gegen- über den geistigen Gaben anderer Völker? Da waren die Europäer selbstgenüg- samer. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis man anfing, die kulturellen Errun- genschaften anderer ernst zu nehmen. Das Wissen, das über China oder Indien in Europa verbreitet war, haben die Menschen für ihre eigenen Bedürfnisse umgedeutet. Der Philosoph Voltaire zum Beispiel fand eine Schrift aus Indien, die er für die Urquelle des auf- geklärten Monotheismus hielt. Der Text entstammte allerdings der Feder eines Missionars und war damit ein abendländisches Produkt. In Ihrem Buch betonen Sie, dass die Expansion keine Einbahnstraße war. Was meinen Sie damit? Die europäische Expansion beruhte auf einem Bündnis der Kolonialherren mit den einheimischen Eliten auf Kos- ten der einheimischen Unterschichten. Das fing bei der Eroberung Amerikas an. Die Häuptlingsschicht arrangierte sich mit den Spaniern, für die unteren Schichten änderte sich erst einmal nur die Religion. Die Europäer waren prag- matisch: Sie wollten mit ihren Kolonien Geld verdienen und sparten deswegen am Verwaltungsapparat. Wie wollen Sie aber Nigeria oder Indien mit 200 oder 300 Personen verwalten? Das kann nur gelingen, wenn man einhei- mische Hilfskräfte heranzieht. Die wie- derum hatten großes Interesse daran, einen sozialen Aufstieg hinzulegen, mehr Geld zu verdienen und die Privi- legien des Adels zu erlangen. Die Auffassung vom Kolonial- herren, der die Einheimischen aus- beutet, halten Sie also nicht für realistisch? So schwarz-weiß ist es nicht, denn ohne die Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten wäre die Expansion nie- mals möglich gewesen – der Sklaven- handel übrigens auch nicht. Ich würde es sogar als rassistisch bezeichnen, die Einheimischen als reine Opfer zu sehen, weil man sich einbildet, sie seien völlig hilflos. Es ändert nichts daran, dass Europa eine große Verant- wortung auf sich geladen hat, aber die Einheimischen waren schlau und ha- ben die Europäer oft ungeachtet der Machtverhältnisse gegeneinander aus- gespielt und ausgenutzt. Heute ist die Welt in alle Himmels- richtungen erschlossen, mit der euro- päischen Ausbreitung ist es vorbei. Der entscheidende Punkt ist, dass die anderen Staaten aufgeholt haben. Die Expansion beruhte auf einem be- deutenden Unterschied: Die Europäer hatten, vor allem im 19. und 20. Jahr- hundert, keine losen und uneinheitli- chen Reiche mehr, sondern moderne Staaten. Das ist das machtvollste Gebilde, das Menschen je erfunden haben. Solange dieser Unterschied bestand, behielten sie die Oberhand. Heute sind alle Staaten, zumindest formal, souverän. Wir haben die inter- nationale Gerichtsbarkeit. Das funktio- niert immerhin so weit, dass niemand einfach ein Land annektieren kann. Die Welt läuft also auf ein Netzwerk von einigermaßen gleichberechtigten Partnern hinaus, wobei wir nicht wis- sen, ob der eine oder andere womög- lich Unsinn anrichtet. Halten Sie die Globalität für ein tragfähiges Konzept? Nein, dafür sind die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Unter- schiede zu groß. Passender finde ich den Begriff „glokal“. Einerseits herrscht so etwas wie ein global ähnlicher Standard: Es gibt überall Smartphones, Maschinenpistolen und die Naturwissen- schaften. Andererseits breitet er sich lokal völlig unterschiedlich aus, vor allem im kulturellen Bereich. Ich war mal in Torgau in Sachsen in einem indischen Restaurant, das italienische Küche anbot. Ich bestellte mir ein Tiramisu mit Mangosoße. Das hat prima geschmeckt. Humor ist also das Mittel der Wahl, um mit dem Erbe der Expansion umzugehen? Die Frage ist doch: Wie soll jemand eine Errungenschaft wie die Menschen- rechte anerkennen, ohne zugeben zu müssen, dass er dem anderen unter- legen ist? Ich poche auf das Konzept der Aneignung. Es gibt einen Punkt, an dem die Errungenschaften der Europäer nicht mehr europäisch sind, sondern in die jeweilige Kultur über- gehen. Die Menschenrechte sind dann eben die chinesischen Menschenrechte. Das sehen wir auch an der Sprache. Heute ist Englisch nicht mehr nur die Sprache der Königin, sondern auch die Sprache der Amerikaner, der Inder oder der Nigerianer. Wenn wir dieses Konzept ernst nehmen, können wir viel entspannter mit der Welt umgehen. Ich drücke es ganz banal aus: Die Kartoffel ist heute ja auch unsere Kartoffel. forschen Wolfgang Reinhard erzählt, wie die Europäer die Welt eroberten Wissenschaft entdecken auf Surprising Science Was geschieht im Gehirn bei der Bewertung sozialer Gruppen? Im Videointerview erklären Psycho- logen die neuronalen Vorgänge bei der Einordnung von Informationen. Achtsamkeit in der Schule: Forschende testen, wie trotz Stress und Leistungsdruck Muße erlebt werden kann. www.pr.uni-freiburg.de/pm/ surprisingscience Sie kamen, sie sahen, sie exportierten die Kartoffel Fit für den Klimawandel Die Universität Freiburg beteiligt sich am Projekt Clim’Ability, mit dem Institutionen aus Wissenschaft und Wirtschaft den Herausforderungen der globalen Klimaerwärmung begegnen wollen. Ziel ist es, Strategien zu entwi- ckeln, mit denen sich Unternehmen in der Metropolregion Oberrhein besser auf vom Klimawandel verursachte Risiken vorbereiten können. Beteiligt sind Partner aus Deutschland, Frank- reich und der Schweiz. Die Universitä- ten am Oberrhein vollziehen damit einen weiteren Schritt zum Aufbau des European Campus. An der Albert- Ludwigs-Universität ist ein Team vom Institut für Umweltsozialwissenschaf- ten und Geographie unter der Leitung von Prof. Dr. Rüdiger Glaser beteiligt. Die Europäische Union fördert das bis zum 31. Dezember 2018 laufende Vorhaben über das INTERREG-VA- Programm mit etwa 1,2 Millionen Euro. www.pr.uni-freiburg.de/go/climability Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäi- schen Expansion 1415–2015. C.H.Beck, München 2016. 1.648 Seiten, 58 Euro. Wolfgang Reinhard: 2,3 Millionen Euro für Freiburger Physiker Was geschieht mit Licht, wenn es in fotoaktive Materialien, also auf Licht reagierende Stoffe, gelangt? Dies herauszufinden ist das Ziel des Projekts COCONIS (Coherent Multi- dimensional Spectroscopy of Con- trolled Isolated Systems), für das Frank Stienkemeier, Professor für Molekül- und Nanophysik an der Universität Freiburg, einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) erhält. Der ERC fördert das Vorhaben in den nächsten fünf Jahren mit 2,3 Millionen Euro. Die Auszeichnung ge- hört zu den renommiertesten Preisen in Europa und ehrt etablierte Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler, die für ihre Disziplin wegweisende Bei- träge geleistet haben. Stienkemeier und sein Team wollen die so genannte kohärente Spektroskopie nutzen, um Prozesse nach Lichtanregung durch neue Lasertechniken und spezielle ul- traschnelle Methoden zu erforschen. Die Erkenntnisse könnten dazu beitra- gen, Systeme zu verbessern, die auf organischer Fotovoltaik basieren. Das Konzept der Globalität hält der Historiker Wolfgang Reinhard nicht für tragfähig. Realistischer findet er hingegen die Vorstellung des „Glokalen“ – ein globaler Standard, der sich lokal unterschiedlich auswirkt. FOTO: KLAUS POLKOWSKI 022016

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