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uni'wissen 02-2013

Maria, Mutter Gottes, verjage Putin!“ Die Stimmen summen süßlich, sie klingen fast wie christliche Chormusik. Dann donnert der Bass in die Melodie, die Frauen springen, spie- len Luftgitarre, headbangen auf der Bühne. An diesem Februartag ist sie der Altar der russisch- orthodoxen Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Die­Mitglieder­der­russischen­Band­Pussy­Riot­ rufen in den heiligen Hallen zum „Punk-Gebet“ auf. Knapp eine Minute dauert dieser Auftritt. Nadeschda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch bezahlen ihn teuer. Ein halbes Jahr später, im August 2012, verurteilt ein Moskauer Gericht die Musikerinnen zu jeweils zwei­ Jahren­ Lagerhaft­ –­ wegen­ „Rowdytums,­ motiviert aus religiösem Hass“. Der weltweite Protest lässt nicht lange auf sich warten: Das seien diktatorische Methoden, die Künstlerfreiheit werde verletzt. Deutsche Po- litikerinnen und Politiker werfen dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin vor, „drakoni- sche Strafen“ zu verhängen. Er missbrauche die Justiz, um mutige Kritikerinnen mundtot zu ma- chen. Mutig seien die Musikerinnen in der Tat, finden auch die Freiburger Slavistinnen Prof. Dr. Elisabeth Cheauré und Dr. Regine Nohejl. Doch der­Konflikt­laufe­nach­einem­typischen­Muster­ ab. Ost und West zeigten gegenseitiges Unver- ständnis, ihnen fehle die Bereitschaft, den jewei- ligen kulturellen Kontext mitzudenken. „Stellen Sie sich vor, solch ein Auftritt passiert im Peters- dom. Dass der Westen dann genauso locker mit der künstlerischen Freiheit umgehen würde, be- zweifle ich“, sagt Cheauré. Die beiden Wissenschaftlerinnen haben in ei- nem von der Deutschen Forschungsgemein- schaft geförderten Projekt untersucht, wie in Russland nationale Identitäten entstanden sind und­entstehen­–­vom­18.­Jahrhundert,­als­das­ Land noch ein klassisches Imperium im vormo- dernen Sinne war, über die Revolutionen von 1917,­die­eine­neue­politische­Ordnung­einläuten­ wollten, bis in die Gegenwart hinein, in der Fotos einen halbnackten Ministerpräsidenten zeigen, der­Tigerbabys­den­Kopf­krault.­Die­Slavistinnen­ haben unter anderem literarische Werke, Zeit- schriften, politische Reden und Programme, Fil- me und Fernsehserien, philosophische Schriften, Botschaftsberichte, Reiseliteratur und Werbepla- kate­ausgewertet.­Die­Symbole,­die­die­Staats- idee zum Ausdruck bringen, haben sich im Verlauf der vergangenen 300 Jahre verändert, doch eines haben sie gemeinsam: „Nation und Geschlecht sind immer verschränkt“, erklärt Nohejl. „Uns interessiert, wie sich diese Reprä- sentationen entwickeln und verändern. Und wie sie zwischen Russland und dem Westen für Missverständnisse und Blockaden sorgen.“ Ähnlich, aber anders Missverständnisse und Blockaden: Das schei- nen Schlüsselbegriffe im Verhältnis zwischen Russland und westeuropäischen Ländern wie Deutschland und Frankreich sowie den USA zu sein. Die westliche Wahrnehmung Russlands sei ein Widerspruch in sich, sagen die Forscherin- nen. Auf der einen Seite gebe es eine kitschver- zerrte­ Sehnsucht­ –­ man­ bewundere­ die­ große­ slavische Seele, das weiche Mütterchen Russ- land. Auf der anderen Seite titulieren westliche Zeitschriften Russland als Bären, als Raubtier, das die zivilisierte Welt niederwalzen wird. Wie passt das zusammen? „Das Spiel mit Gender- metaphern­ beginnt­ schon­ im­ 18.­ und­ 19.­ Jahr- hundert“, berichtet Nohejl. Es verläuft parallel zu zwei anderen Entwicklungen dieser Zeit: Groß- britannien, Frankreich und Deutschland koloni- sieren­Asien­und­Afrika­–­das­Ideal­des­„edlen­ Wilden“, eines von der Zivilisation unverdorbe- nen Urmenschen, schleicht sich in das Bewusst- sein europäischer Aufklärer. Zeitgleich entsteht in Westeuropa ein Ge- schlechtermodell, das die Unterschiede zwi- schen Männern und Frauen verschärft und dem Weiblichen Unberechenbarkeit, Irrationalität und Zerstörungswut einschreibt. Vor diesem Hinter- grund tritt Russland auf den Plan, „als das Ande- re und Exotische, das zugleich aber dem Westen gar nicht so unähnlich ist“, sagt Cheauré. Das gleiche Prinzip finde sich heute auch auf dem Feld der Heiratsvermittlung: Deutsche Männer schwärmen gerne von der schönen Olga oder Natalia­–­der­fremden­Frau,­„die­aber­gezähmt­ genug ist, sodass sie die deutsche Kultur nicht bedroht“, betont Nohejl. „Stellen Sie sich vor, solch ein Auftritt passiert im Petersdom. Dass der Westen dann genauso locker mit der künstlerischen Freiheit umgehen würde, bezweifle ich“ 29

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