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uni'wissen 01-2012

deren ältere, reguläre Entsprechungen. Zu jedem Einzelfall sucht sie Parallelen in unveränderten Versen, um nachzuprüfen, ob sie mit ihren Ände- rungen innerhalb der traditionellen Dichter­ sprache bleibt. Dies wäre früher nicht so leicht möglich gewesen: „Mein Vorteil ist, dass ich den Homertext elektronisch durch­suchen kann.“ Sprachliche Brüche sind inhaltlich erklärbar Die Argumentation überzeugt indes nur, wenn sprachliche Brüche zwischen alten und neuen Passagen auch inhaltlich begründbar sind. Zudem dürfen verlässliche Kriterien zur Textdatierung, zum Beispiel archäologische Funde, den Ergeb- nissen nicht widersprechen. Beides sei bei ihren bisherigen Arbeiten erfüllt, sagt Tichy. Ein Beispiel bietet der Eberzahnhelm des Meriones im Zehnten Gesang der Ilias. Der Helmtyp ist mykenisch, das jüngste gefundene Exemplar stammt aus ­einem Grab des 10. vorchristlichen Jahrhun- derts. Die exakte Beschreibung spricht dafür, dass der Dichter einen solchen Gegenstand selbst gesehen hat. Prompt ließen sich die entspre- chenden Verse leicht in den epischen 15-Silbler umsetzen und damit als alt klassifizieren – die Verse davor und danach hingegen nicht. „Wir ­haben es also mit einer alten Passage zu tun, die in die junge Textumgebung eingebaut wurde.“ Umgekehrt verhält es sich beispielsweise in der Alter Helm, alte Verse: Die Beschreibung eines Eberzahnhelms in der Ilias bietet ein gutes Beispiel dafür, wie der Dichter mündlich überlieferte Passa- gen in eine neue Textumgebung eingebaut hat. Foto: Wikimedia Commons ­Glasplatte über einer archäologischen Ausgra- bung: Man kann oben laufen und trotzdem sehen, was darunter liegt.“ Die ursprüngliche Versform wiederherstellen Die Vorarbeit hat der norwegische Gräzist Nils Berg 1978 mit seiner Hypothese über den Ursprung des Hexameters geleistet. Der Hexa- meter, das Versmaß der Ilias, hat 14 bis 17 Silben, wobei lange und kurze nach strengen Regeln verteilt sind. Berg betrachtet ihn als Neuerung, die er dem Ionischen, dem Dialekt Homers, zu- ordnet. Entwickelt habe sich der Hexameter aus einem 15-silbigen, metrisch freieren Vers der ­äolischen Phase des frühgriechischen Epos, die der ionischen vorausging. Diese Hypothese wendet Tichy auf die Ilias an: „Homer oder ein Vorgänger hat alte, in dem 15-silbigen Vorläufer- vers gedichtete Passagen übernommen und in den ionischen Hexameter umgesetzt.“ Daraus folgt: Sprachlich alte Verse der Ilias, die unver- ändert als epische 15-Silbler lesbar sind oder sich mit einer leichten Änderung in diese Form bringen lassen, können oder müssen alt sein. Im Umkehrschluss sind alle Verse, die sich nicht in den Vorläufervers zurückversetzen lassen, wahr- scheinlich jung, von Anfang an im Hexameter ­gedichtet und stammen von Homer selbst. Um ihre These zu prüfen, versucht Tichy, die Vorläuferverse mit möglichst geringen Eingriffen in den Text wiederherzustellen. Sie macht die metrischen Anpassungen an den Hexameter, die Homer aus ihrer Sicht an den mündlich über­ lieferten Versen vorgenommen hat, rückgängig. Beispielsweise kürzt sie Silben aus metrisch ­gestreckten Wortformen und streicht Partikeln oder Pronomina, wenn sie zum Inhalt nichts bei- tragen, vielleicht sogar im Satz an falscher Stelle stehen. Oder sie tauscht metrische Varianten aus und ersetzt junge ionische Formen oder ­Formen, die es grammatikalisch nicht geben dürfte, durch 6

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