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uni'wissen 02-2013

Apropos ungezähmt: Der französische Diplo- mat Louis-Philippe de Ségur schreibt im 18. Jahrhundert, die Einwohnerinnen und Einwohner von Sankt Petersburg erinnerten ihn an „halbwil- de Gestalten“. Für die Slavistinnen ist die eigent- lich interessante Frage aber, wie Russinnen und Russen mit diesen Zuschreibungen umgingen. Zunächst empöre und wehre sich das Volk, denn es sehe sich als eine gleichwertige, christliche Nation, nicht als Kolonie des Westens. Im 19. Jahrhundert jedoch kommt es zu einem Wandel. Die aufkommende Intelligenzija deutet die west- lichen Zuschreibungen um und bestimmt das russische Selbstverständnis neu. Sowohl der Schriftsteller und Musiktheoretiker Wladimir Odojewskij als auch der Literat Fjodor Dosto- jewskij verurteilen Westeuropa, das sich einem blinden Vernunftfetischismus ergeben habe. Sie und andere gehen sogar so weit zu behaupten, nur Russland könne den „faulenden Westen“ ret- ten, der an seinen eigenen Ideen kollabiere. Eine wichtige Rolle bei diesem Umschwung spielt der Sieg über Napoleon, erklären die Sla- vistinnen: Russland schlägt den machtbesesse- nen französischen Kriegsherren 1812 in die Flucht. „Das vermeintlich unterentwickelte Volk, das Deutschland und Frankreich hinterherhinkt, wird zum Retter Europas“, sagt Nohejl. Mit dem neuen Selbstbewusstsein fällt es den Russen nicht schwer, das lang beschriebene und besun- gene Klischee von der slavischen Seele anzu- nehmen – im Gegenteil. Es wird zum Grundstein der gewonnenen Überlegenheit, schließlich sei das Emotional-Mystische gerade das, was dem Westen abgehe. Macho und Mutterfigur 1813 schreibt Zar Alexander I. einen Ideen- wettbewerb aus: Eine monumentale Prunkkirche soll in Moskau gebaut werden, als stolzes An- denken an den Sieg über Napoleon. 200 Jahre Pussy-Riot-Power: Mit ihrem kurzen Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale rütteln die Musikerinnen an den Fundamenten des russischen Staatsmodells. Illustration: Svenja Kirsch 30

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