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uni'alumni 2014

21 „Ich habe in den späten 1970ern in Freiburg studiert und war nie Mitglied einer WG – wie kann so etwas passie­ ren? Ich hatte wie durch ein Wunder über Kommilitonen eine Drei­Zimmer­ Wohnung bekommen, in der Gerberau, beste Lage. Es gab weder Bad noch Du­ sche noch Heizung, aber die 175 oder 185 Mark Miete konnte ich mir leisten. Ich war für die Badische Zeitung als Lokalre­ porter unterwegs. Das brachte 400 bis 800 Mark im Monat. Mein Vater gab mir 500, später 600 Mark. Ich war ein schwer­ reicher Student, verglichen mit anderen. Allerdings auch ein viel beschäftigter. Als ich nach dem Examen nach Stutt­ gart ging, wollte ich mir als Wochenend­ pendler die Freiburger Wohnung mit einem Studenten teilen. Das wäre meine WG gewesen! Wenn ich dann am Wochenende da war, hatte mein Mit­ bewohner mit seiner Freundin, gele­ gentlich aber auch solo, immer extrem lauten Sex. Wenn dieser Mensch sexu­ ell wurde, egal wie, war es nicht einfach nur ein bisschen laut. Es war ein Vul­ kanausbruch mit Erdbeben plus Wirbel­ sturm. Das hat sich für mich nicht gut angefühlt, wenn ich da alleine in mei­ nem Zimmer lag. Deswegen habe ich die Wohnung sehr bald komplett an ihn übergeben. Verbieten konnte ich ihm das ja schlecht. Ich bin wohl ein Opfer der sexuellen Revolution, zu deren Hochburgen Freiburg, auch dank der ,Marxistisch­Reichistischen Initiative‘, in jenen Jahren gehört hat.“ Künstlerischer Feingeist und For­ scher, Drehbuchautor für Hollywood, Romancier, Psychiater und Parkinson­ patient, Jude, Katholik und manchmal Atheist, Familienvater und Ehebrecher, Pazifist und Kulturoffizier in französi­ scher Militäruniform, großer, von der Literaturwissenschaft lange vernach­ lässigter Autor: Es sind die Widersprü­ che, die das Werk von Alfred Döblin (1878–1957) prägen. Zwischen Ländern zu leben, zwischen Überzeugungen zu schwanken, zwischen allen Stühlen zu sitzen war für ihn Leidenschaft und nur selten Leid. Er liebte das Experiment, nicht die Patentlösung. Gebärmutter für Geschichten Döblin hat den Expressionismus mitbegründet und zählt zu den produk­ tivsten deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als „Kilometerfresser von Papier, ein Liter­ schlucker von Tinte“ charakterisierte er sich selbst. Aus diesem Ressourcen­ verbrauch im Industriemaßstab ist ein Werk hervorgegangen, das unter ande­ rem Romane, Erzählungen, program­ matische Schriften, philosophische Exkurse und Politsatiren enthält. Seine Texte, behauptete er einmal, würden bei Dunkelheit aus ihm hinausgleiten – er sei lediglich die Gebärmutter für seine Geschichten und Gedanken. Während seines Medizinstudiums und der Pro­ motion in Freiburg brachte er zwei Romane und eine Novelle zur Welt. Und bei einem Spaziergang auf dem Schlossberg 1904 oder 1905 gebar er die Idee zu seiner berühmtesten Erzäh­ lung „Die Ermordung einer Butterblume“. Döblin war einer der ersten Exil­ autoren, die nach dem Zweiten Welt­ krieg nach Deutschland zurückkehrten. Freiburg und seine Umgebung spielten bis zu seinem Lebensende eine Rolle: Kurz nach der Wiedereröffnung der Albert­Ludwigs­Universität hielt er an seiner Alma Mater einen Vortrag. Die letzten Jahre verbrachte er als Parkin­ sonkranker in Kliniken und Sanatorien. Am Ende seines Lebens stand nicht nur ein großes Werk, sondern auch die schmerzvolle Rückkehr in ein fremd gewordenes Land: „Und als ich wieder­ kam – da kam ich nicht wieder.“ Rimma Gerenstein Der Journalist Harald Martenstein hat an der Universität Freiburg studiert und nebenbei als Lokalreporter gearbeitet. Foto: Bertelsmann Opfer der sexuellen Revolution MEINE WG: HARALD MARTENSTEIN Unter dem Pseudonym „Linke Poot“ schrieb Alfred Döblin Satiren und Glossen, in denen er die Politik der Weimarer Republik kritisierte. Foto: Deutsches Literaturarchiv Papierfresser und Tintenschlucker GRÖSSEN DER GESCHICHTE: ALFRED DÖBLIN

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