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uni'wissen 02-2012

hat beobachtet, dass unter anderem Menschen mit kreativen Berufen, vom Schriftsteller bis zum Grafikdesigner, die Cafés aufsuchen. Dort haben sie einen zuverlässigen Zugang zum Internet und mehr oder weniger ihre Ruhe, denn nicht ­jeder kann sich das exklusive Ambiente leisten. Umgerechnet etwa zwei Euro kostet in einer Starbucks-Filiale der Kaffee des Tages – in einer Garküche um die Ecke bekommt man für die Hälfte des Preises eine Portion Nudelsuppe. Oft kauften sich die Leute nur einen kleinen ­Kaffee – doch mit großem Effekt: Die Konsum- güter dienten als eine Art kulturelle Brücke zum modernen und eleganten „Westen“, sagt die ­Sinologin. „Die Menschen empfinden sich als Teil einer globalen Gruppe, nach dem Motto: Auch wenn ich hier in einer Stadt sitze, deren Namen noch nie jemand in den USA gehört hat, kann ich mir vorstellen, ich wäre mit meinem Frappuccino am Broadway in New York.“ Dass ihr „Lieblingskaffee“ eigentlich Iced Latte oder Salted Caramel Mocha heißt, interessiert die meisten Konsumentinnen und Konsumenten ­übrigens nicht. Henningsen hat herausgefunden, dass Leute in Gästebucheinträgen ganz schnöde Namen wie „Eiskaffee“ benutzen. Daran änderte sich auch nichts, nachdem chinesische Filialen Broschüren herausgegeben hatten, in denen die richtigen Bezeichnungen übersetzt und erklärt wurden. Bücher auf dem Schwarzmarkt Ein bestimmtes Lebensgefühl spüren, Teil einer modernen Gruppe sein: Diese Faktoren schwin- gen auch beim Konsum populärer Literatur mit. Bei der Recherche verließ sich die Forscherin nicht ausschließlich auf chinesische Bestseller- listen. „Zahlen können sehr schnell manipuliert werden. Man weiß nie, ob die Menschen die am meisten verlegten Bücher wirklich lesen. Das Tele- fonbuch haben bei uns schließlich auch alle zu Hause stehen.“ Stattdessen nutzt sie andere Quellen, um sich einen zuverlässigen Eindruck zu verschaffen: Sie bittet ihre Studierenden, die ­regelmäßig Sprachreisen nach China unternehmen, sich auf dem Schwarzmarkt umzuschauen. Die meistverkauften Titel bringen sie ihrer Dozentin mit. Als Henningsen vor einigen Jahren an ihrer Dissertation arbeitete, waren es vor allem echte und gefälschte „Harry-Potter“-Bücher, die auf dem Dr. Lena Henningsen hat Sinologie, Musik­ wissenschaft und Politik- wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Nanjing Normal University/China und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg studiert. ­Zwischen 2004 und 2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sinologie der Universi- tät Heidelberg. 2008 hat sie dort ihre Dissertation vorgelegt, in der sie sich unter anderem mit Imita­ tionen und Plagiaten von „Harry-Potter“-Romanen beschäftigt hat. Seit 2012 ist Henningsen Juniorpro- fessorin am Institut für ­Sinologie der Universität Freiburg. Zu ihren For- schungsschwerpunkten ­gehören die populäre ­Literatur im China des 20. und 21. Jahrhunderts, die ­gegenwärtige chine­ sische Konsumkultur und die ­chinesische Musik. Foto: Kunz Zum Weiterlesen Henningsen, L. (2011): Coffee, fast food and the desire for romantic love in contemporary China: branding and marketing trends in ­popular contemporary Chinese-language ­literature. In: Transcultural Studies 2/2011, S. 232 – 270. Henningsen, L. (2010): Copyright matters: ­imitation, creativity and authenticity in contem- porary Chinese literature. Berlin. Henningsen, L. (2009): Reich der Fälscher – oder Land der Kreativen? Der chinesische Buchmarkt und (globale) Phänomene der Kreativität. In: Orientierungen 1/2009, S. 34 – 58. Schwarzmarkt boomten. Die Verkaufszahlen für die Fantasyreihe schossen schnell in die Höhe, als die ersten Verfilmungen in die Kinos kamen – Stichwort: multimediale Vermarktung. Henningsen untersuchte Plagiate, von in Windeseile produ- zierten Laienübersetzungen der Romane bis zu ­Umdichtungen, in denen der Protagonist Aben- teuer an kulturell bedeutenden chinesischen ­Orten erlebt. Heute gehören zum Beispiel Bücher des Autors Han Han zu den meistverkauften. 48 Titel listet der Literaturstar auf, die auf dem Buchmarkt ­unter seinem Namen kursieren, aber nicht von ihm stammen. Einige gefälschte Exemplare ­haben es sogar in chinesische Bibliotheken ­geschafft. Der junge Schriftsteller ist ein Meister der Selbstver- marktung. In seinem Blog, der zu einem der meistgelesenen des Landes gehört, inszeniert er sich als Rebell: benutzt Vulgärsprache, schreibt, dass er eine japanische Pornodarstellerin zu seinem Idol auserkoren hat, tritt als professio- neller Rennfahrer bei Wettbewerben an und kriti- siert das Erziehungs- und Bildungssystem der Volksrepublik China. „Han Han ist zwar kein Dissi- dent, aber er gilt als jemand, der sich frech in aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten einmischt. Dieses Gefühl von Freiheit konsumie- ren die Leser mit, wenn sie ­seine Bücher kaufen.“ 23

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