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uni'wissen 02-2012

Friedrich Nietzsche war ein Meister im Verbergen seiner Quellen. Jetzt decken die Freiburger Kom- mentatoren auf, von wem sich der Philo- soph inspirieren ließ. Foto: Klassik Stiftung Weimar ­Kommentierung unumgänglich. Zwar betonte Nietzsche zu Lebzeiten immer wieder, dass er selbst kaum lese, doch dem war nicht so. „Nietz- sche hat sich sehr wohl inspirieren lassen, und darum müssen wir zahlreiche Quellen aus dem 19. Jahrhundert in Betracht ziehen“, sagt Neymeyr. Der Philosoph war ein Meister im Verbergen sei- ner Quellen. Mitunter nannte er zwar Referenz- autoren, meistens aber nicht. Ein gutes Beispiel dafür ist der dritte Teil der „Unzeitgemäßen ­Betrachtungen“ über „Schopenhauer als Erzieher“. Der Name Schopenhauer falle darin zwar öfter, so Neymeyr, aber nur an zwei Stellen nenne Nietzsche Schopenhauers Abhandlung „Über die Universitäts-Philosophie“ ausdrücklich. „Beim direkten Vergleich beider Schriften wird aber deutlich, dass Nietzsche Wesentliches von Schopenhauer übernimmt, sogar Argumen­ta­ tionsstrukturen.“ Mit viel Polemik gegen den Zeitgeist Immer wieder bearbeitet Nietzsche die ­Gedanken anderer weiter und macht sie für seine Philosophie passend – sogar die Ansichten sei- ner Gegner: „Vor allem im Spätwerk macht er sich explizit die Autoren zu erklärten Feinden, von denen er am meisten übernimmt“, erklärt Sommer. Um nicht mit ihnen verwechselt zu wer- den, verschleiert er die Quellen oder grenzt sich mit viel Polemik von diesen Autoren ab. Eine ebenso schlichte wie wirkungsvolle Methode, ­gegen den damals vorherrschenden Zeitgeist Position zu beziehen. So konstruiert er zum Bei- spiel in seinen letzten Schriften die Geschichte des Juden- und des Christentums als eine ­Verfallsgeschichte und greift dabei auf die Theorie des Alttestamentlers Julius Wellhausen zurück, der die Entstehung des Judentums als Prozess der „Entnatürlichung“ beschreibt. Nach Well­ hausen konnte das Christentum diese Entwicklung umkehren, Nietzsche zufolge verstärkt es die „Entnatürlichung“. Der Name Wellhausen taucht allerdings in Nietzsches Werken nicht auf. Seine Spur haben erst die Freiburger Kommentatoren sichtbar gemacht – wie viele andere Quellen auch. „Da ist detektivischer Spürsinn gefragt.“ Wichtige Hinweise darauf, wie Nietzsche Quel- len verwertete, fanden die Kommentatoren in der in Weimar verwahrten, für die Forschungsstelle digitalisierten Privatbibliothek des Philosophen. Warum aber wird Nietzsches Werk erst jetzt konsequent kommentiert? „Die großen weltan- schaulichen Schlachten um Nietzsche scheinen geschlagen zu sein. Die Zeit war reif“, sagt ­Andreas Urs Sommer, außerplanmäßiger Profes- sor für Philosophie an der Universität Freiburg und einer der Kommentatoren – neben Jochen Schmidt und Barbara Neymeyr. Forschungsstel- lenleiter Schmidt hatte bis 2004 an der Universität Freiburg den Lehrstuhl für Neuere deutsche Lite- ratur inne, Neymeyr ist Professorin für dasselbe Fach. Dass Nietzsche immer wieder anders inter- pretiert wurde, rührt nach Meinung Neymeyrs daher, dass „sein stark sprunghaftes, aphoristi- sches Denken viele seiner Leserinnen und Leser dazu verführt hat, aus einzelnen Zitaten ganze Weltanschauungen zu konstruieren“. Immer wieder sei Nietzsche ideologisch vereinnahmt worden – von den Nationalsozialisten genauso wie von den Marxisten oder den Feministinnen. Problematisch ist auch die manipulative Nachlasspolitik von Nietzsches Schwester Elisa- beth, der willige Helferinnen und Helfer aus dem Weimarer Nietzsche-Archiv zur Seite standen. Immerhin waren sie es, die Texte aus Nietz- sches Nachlass verfälschten und aus ihnen den „Willen zur Macht“ zusammenstückelten. Dieses in viele Sprachen übersetzte Werk galt vielen ­Interpretinnen und Interpreten, zum Beispiel dem Philosophen Martin Heidegger, als Quintes- senz von Nietzsches Philosophie, weil sie des- sen experimentelles Denken vereindeutigte und vereinfachte. Dass der Nachlass über Jahrzehnte hinweg überbewertet wurde, ist aber auch auf Nietzsches Selbststilisierung zurückzuführen: Seine wichtigsten Werke seien noch in Arbeit, ließ er seine Leser immer wieder wissen. In den Kommentaren der Freiburger Forschungsstelle wird Nietzsches Nachlass jetzt wieder zur Neben- sache erklärt. Meister im Verbergen seiner Quellen Jeder Kommentator hat sein Spezialgebiet: Während sich Sommer auf die späten Schriften ab 1888 konzentriert, bearbeitet Neymeyr die vom Denken des Philosophen Arthur Schopen- hauer durchwirkten „Unzeitgemäßen Betrachtun- gen“ und Schmidt, als Kenner der griechischen Antike, das Erstlingswerk „Die Geburt der Tra­ gödie“. Fachübergreifende Arbeit ist für die „Nietzsche hat sich sehr wohl inspirieren lassen, und darum müssen wir zahlreiche Quellen aus dem 19. Jahrhundert in Betracht ziehen“ 37

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