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uni'wissen 01-2013

Eigentlich war Lipphardt 2008 an die Aka­ demie Solitude gekommen, um an ihrem For­ schungsprojekt zu kleinen Wanderzirkussen zu arbeiten. „Als ich das Projekt vorgestellt hatte, kamen viele Leute zu mir und sagten, dass ihnen das Thema sehr nahe gehe. Das habe ich erst gar nicht verstanden“, erzählt sie. Zu unter­ schiedlich erschienen ihr zunächst das Leben der Künstler an der Stuttgarter Akademie und die Welt der Zirkusfamilien – bis sie begriff, dass die Schauspieler und Maler bei den permanent reisenden Artistinnen und Artisten etwas aus ihrem eigenen Alltag wiederfanden. Reizvoll und unheimlich Für die kleinen Wanderzirkusse, die im späten 19. Jahrhundert entstanden und bis heute den Großteil der in Deutschland aktiven Zirkuskom- panien ausmachen, war und ist Mobilität eine Grundvoraussetzung ihrer Arbeit: „So können sie dasselbe Repertoire jede Woche vor einem ande­ ren Publikum spielen.“ Sie bestehen oft nur aus einer erweiterten Familie, die gemeinsam unter­ wegs ist und sich immer wieder neu einrichten muss. „Der Zirkus lebt von der Inszenierung des Fremden, Exotischen“, sagt Lipphardt. Das mache ihn für die meisten Menschen zugleich reizvoll und unheimlich. Es werde aber immer schwieriger, Standflächen zu finden: „Es geht nicht nur ums Unterwegssein, sondern auch um die Frage: Wer darf wann wo sein?“ Die Versorgung mit Wasser und die Entsorgung des Mülls seien oft nicht geklärt – und klassische Integrationspolitik greife nicht, da der Zirkus ja weiterziehe. „Da herrscht eine absichtsvolle bürokratische Unzuständigkeit“, sagt Lipphardt: „Für professionelle Milieus oder soziale Gruppen, die dauerhaft mobil sind, gibt es in Deutschland relativ wenige Lösungen.“ Beson­ ders deutlich werde das beim Thema Bildung: „Kinder aus Zirkusfamilien haben keinen angemes­ senen Zugang zu Schulbildung, und ihre Wett­ bewerbsbedingungen werden immer schlechter.“ Nur in Nordrhein­Westfalen gibt es ein ursprüng­ lich von der evangelischen Kirche initiiertes Projekt, in dem Zirkuskinder kontinuierlich von denselben Lehrerinnen und Lehrern eine Mischung aus Präsenz­ und Fernunterricht bekommen. Dr. Anna Lipphardt ist seit 2011 Juniorprofessorin für Kulturwissenschaften am Institut für Volkskunde der Universität Freiburg. Sie hat Politikwissenschaft, Baltistik und Jüdische Studien in Litauen, Deutschland und den USA studiert und 1999 ihren Master in Jewish Studies an der Universität Chicago/USA gemacht. 2006 wurde sie an der Uni­ versität Potsdam zum Thema „Transnationale Erinnerungs­ geschichte der Juden aus Vilnius/Litauen nach dem Holocaust“ promoviert. An­ schließend arbeitete sie am Centre Marc Bloch in Berlin und an der Universität Kon­ stanz. Die Migrations­ und Mobilitätsforschung gehört zu ihren thematischen Schwerpunkten. Foto: privat Zum Weiterlesen Cresswell, T. (2006): On the move. Mobility in the modern Western world. New York/London. Lipphardt, A. (2012): Artists on the move. Theoretical perspectives, empirical implica­ tions. In: Internationale Gesellschaft der Bilden­ den Künste/Hollywood, A./Schmid, A. (Hrsg.) (2012): Artists in transit. How to become an artist in residence. Berlin, S. 109–122. Lipphardt, A. (2008): Spielraum des Globalen. Deutschland und der Zirkus. In: Reichardt, U. (Hrsg.) (2008): Die Vermessung der Globali­ sierung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Heidelberg, S. 159–178 (= American Studies 162). Lipphardt plant mit einer befreundeten Künst­ lerin ein Projekt, in dem Zirkuskinder ihren Alltag unterwegs fotografieren sollen – als Ausgangs­ punkt für Gespräche: „Wie nehmen sie ihre Welt wahr? Wie funktioniert Familie in einem begrenz­ ten Raum und ohne Freundeskreis vor Ort? Mit welchen Strategien werden Konflikte in der Gruppe oder mit der Bevölkerung verhandelt?“ Wenn genug Zeit bleibt, würde sie gerne einen Wanderzirkus begleiten – für eine gesamte Saison. Die Reize und Mühen des Alltags unterwegs kennt Anna Lipphardt auch aus eigener Erfah­ rung als mobile Wissenschaftlerin. Als Beispiel nennt sie die Zeit nach ihrer Doktorarbeit: „Mein offizieller Lebensmittelpunkt war Berlin, ich hatte einen Job in Konstanz und ein Stipendium in Stuttgart. Meinem Gefühl nach habe ich die meiste Zeit im Zug verbracht – das ist für Post­ docs nichts Ungewöhnliches.“ 7

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